Zu Beginn des Abends habe ich zum Abschluss der ersten Einheit noch einmal zusammengefasst, was wir "aus dem Stand" sozusagen oder von 0 aus mit der Linie erleben können.
Ohne jede Voraussetzung kann jeder Mensch, der einen Stift halten und die Bleistiftspitze identifizieren kann, Linien produzieren, die
- Empfindungen und innere und äussere Bewegungen protokollieren (1.Stunde),
- diese Bewegungen (wie in der Musik) mal stärker oder schwächer, mal schneller oder langsamer, mal kontinuierlicher oder abgehackter darstellen (2.Stunde),
- auf einem Spielfeld (das Zeichenblatt genannt) mehr oder weniger spannungsvoll in Aktion und Pausen verteilt werden können (3.Stunde) ,
und wie heute
- ganz konzentriert und beinahe meditativ zu mehr oder weniger belebten Texturen und Strukturen verwoben werden können (4.Stunde).
Nachdem wir also in der vergangenen Stunde mit grosszügigem und entspanntem Blick auf "Das Große Ganze" zu achten lernten, steht diesmal das krasse Gegenteil, nämlich "Das winzigste Detail" an (Ihr seht, ich mag es, in Gegensätzen/Polaritäten zu denken).
Heute ist endlich der grosse Tag der "Controllettis", die mit Geduld und Pingeligkeit feinst ihr Gewebe konzentriert zu Ende kritzeln, während die Grosszügigen heute schwer leiden und stöhnen...
Denn heute geht es um den geduldigen, scharfen Blick auf das allerkleinste Detail.
Im Kern geht es um die zeichnerische Feinstruktur, d.h. statt wie bisher locker zu kritzeln, werden wir heute geduldig ins Allerkleinste der Zeichnung gehen.
Phantasie ist gefragt, wenn hier so viele Kleinstelemente, Kürzel, Krümel aus allen nur denkbaren visuellen Bereichen zusammenkommen:
- Schriftzeichen, zerlegt in ihre Kleinstbausteine
- Hieroglyphen, alte Schriftsysteme (Keilschrift etwa...)
- Pünktchen, Häkchen, Schnörkel aller Art und Grösse
- Zeichen, wie man sie auf Landkarten verwendet
- Ornamente
- Botanische, mathematische oder sonstige Kürzel
All das birgt Elemente, die man für alle Arten von Zeichnungen nutzen sollten. Es geht darum, geduldig eine Oberfläche, ein Gewebe und Gewimmel von Kleinstformen miteinander so zu verweben, dass diese eine lebendige Struktur wie aus einem feinen Stoff ergeben. Das verlangt natürlich Durchhaltevermögen.
Es darf durchaus geschehen, dass man dabei plötzlich meditativ und wie in Trance arbeitet.
Zu beobachten gilt es ab jetzt und für immer (;-)) Muster aller Art, sammelt Ornamente, Muster, Verzierungen, Schnörkel etc. Beobachtet, wie Zeichner auf detaillierten Radierungen die Oberflächen der Dinge mit Hilfe unzähliger addierter Kleinstformen wiedergeben, um so die Erscheinung von bestimmten Materialien nachzuahmen.
Es geht diesmal auch um den langen Atem, die Geduld, eine grosse Fläche langsam zu Ende zu zeichnen. Es geht auch um pfiffige Strategien, nur den Anschein davon zu erwecken, indem man an den entsprechenden Stellen weglässt und es der Phantasie des Betrachters überlässt, das angefangene Muster im Geist zu ergänzen.
Die ausgeteilten Kopie aus dem Daucher S.35 zeigt diese Strategie deutlich, hier ist weniger gezeichnet, als man zunächst annimmt!
Dass das nicht Übungen nur für den Anfänger sind, sondern durchaus eines Profis würdig sein kann, zeigen meisterhaft Könner wie Horst Janssen und Jean Dubuffet:
"Herr K. am Abend"
"Ekstatische Botanik" und "Langer langer Brief auf einem Blatt"
"Horror vacui" oder "Die Angst des Zeichners vor dem leeren Blatt"
(Alles ca. Mitte 1980)
Buch des Abends:
Prof. D.Brembs, Faszination Linie, Wiesbaden
Das vorgestellte Buch wird uns noch einige Male begegnen, wenn wir uns in unseren Warmups mit den Besonderheiten der Linienarten beschäftigen:
Warmup und Übungen (= Hausaufgabe)
Für das Warmup habe ich mir etwas Besonderes einfallen lassen: "Komposition aus Buchstaben".
Das ist eine Vorübung für das Zeichnen von Texturen. (Man sollte dabei mal über die Verbindung und Verwandtschaft von "Text" und "Textur"ja sogar auch "Textilie" nachdenken. Bei allen geht es um Gewebe...)
Nehmt also euren Namen oder sonst ein geläufiges Wort, schreibt die einzelnen Buchstaben in alle Richtungen, in verschiedener Grösse, mal verkehrt herum, mal nur Fragmente eines Buchstabens, verbindet die entstehenden Flächen zu Figuren, zerlegt die Buchstaben in ihre Bestandteile: Pünktchen, Haken, Kreuzung, Bogen und spielt den ganzen Vorrat an Figuren in allen Grössen und Richtungen durch!
Nebenbei kann diese Übung eine Art "Einfallsmaschine"werden, indem man sich mit den entstehenden Formen und Strukturen auf Kompositions- und Zeichenideen bringen kann (was ich im Anhang bei den Ergebnissen zeige).
Es gilt ab jetzt immer: SPIELT und setzt euch dabei nicht unter Druck!
Zeichnen gehört in den Bereich der MUSEN, nicht MUSSE!
Übung des Abends:
Ich habe euch 2 mögliche Themen gegeben, die man formatfüllend auf einem mind. A4-grossen Zeichenblatt anfangen sollte (da es sehr kleinteilig zugehen sollte, wird euch nichts anderes übrig bleiben, als die Zeichnung geduldig und mitunter auch nur minutenweise zu Hause fertigzustellen - aber bitte stellt sie fertig, euch selbst zuliebe, auch wenn es schwer fällt... Vielleicht dämmert diesem oder jener nebenbei der tiefere Sinn der Sache...):
1) "Eintausend fantastische Blüten blühen auf meiner Wiese" - von oben also ein Blick auf ein Meer von Blütenformen und -zeichen. Ein Lexikon der Botanik ist hier hilfreich oder ein Spaziergang mit wachem Blick...
2) "Bakterienkrieg". Die guten (rundlichen?) gegen die bösen (spitzigen, stachligen??) Kleinstformen liegen im Kampf miteinander...es wird ja nicht überall gekämpft, also gibt es gut verteilt Schauplätze...
Ergebnisse des Warmup
(Ergebnisse der Übungen werden - falls es welche gibt ;-) nächste Woche veröffentlicht):
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