Zu Beginn der Stunde habe ich kurz skizziert, wie man üben sollte:
Zeit:
Regelmässig, aber nie zu lange. Lieber eine qualitätsvolle halbe Stunde oder wenigstens 20 Minuten, als 2 Stunden Selbstquälerei. Versucht aber, ritualisierte, also wiederkehrende Übungszeiten zu schaffen, damit der Geist und Körper quasi automatisch schon danach verlangen...der Rest kommt dann nach.
Zeichnen lernt man wie Autofahren, die gefahrenen Kilometer machen den Unterschied.
Leider habe ich noch kein Osmoseverfahren zum Zeichnenlernen entwickeln können, das hier eine Abkürzung verschaffte.
Raum:
Schafft euch einen Ort oder Platz, der euch selbst, aber auch anderen zeigt, dass euch Zeichnen wichtig ist. Wenn es nicht anders möglich ist, tut es natürlich eine wegräumbare Tischstaffelei und eine Box für Werkzeuge - aber letztlich braucht man die Erinnerung, die von einem Ort ausgeht. Eure Gedanken fangen dann von selbst an, um die Zeichenprobleme zu kreisen, wenn sie an einer festen Stelle der Wohnung dauernd vor Augen sind.
Ausreichend Licht von links für Rechtshänder, genug Raum zum Zurücktreten, wenigstens eine schiefgestellte Zeichenplatte auf der Tischkante, besser noch aber eine Staffelei oder gar ein richtiger Zeichentisch, eines Tages.
Was üben?
Jetzt schon haben wir mit den Warmups der vergangenen Stunden ein Programm für viele Monate - und jede Woche kommen weitere hinzu.
Man muss sich das Üben auch eines Meisters des Zeichnens vorstellen wie bei einem Musiker oder Sportler. Es gibt eine Menge an ständiger Schulung der Geläufigkeit, quasi Tonleitern, Streck- und Dehnübungen, Kraft- und Loslassübungen, die auch nach Jahrzehnten noch relevant sind.
Ich schlage für den Anfang folgende 3 Teile vor, bezogen auf 20 Minuten Gesamtübezeit:
- 5 Minuten Warmups ins Sudelheft, d.h. so anspruchslos und niederschwellig wie möglich. Zeichnen des täglichen "Misthaufens" (die Kürbisse wachsen von selbst da raus...). Bögen, Kreise, endloses Gekreise, Schlangenlinien, Gerade Linien, verwirrte Linien, völlig irre Linien
- 5 Minuten Seh-Übungen. So schlecht und simpel am Anfang wie möglich! Das meine ich total Ernst.
Am Anfang stresst euch bitte nicht mit dem scheiternden Versuch zur Abbildgenauigkeit. Es geht hier erst einmal überhaupt darum, hinzuschauen, sich Zeit zu nehmen, einfache alltägliche Dinge anzuschauen und deren "Geste", d.h. ihren Ausdruck, Richtung, Kraft etc. zu erfassen, also nicht, wie etwas genau ausschaut (da verliert man sofort gegen jeden billigen Fotoapparat), sondern, was die Dinge tun, WIE sie sind. Und besonders spannend wird das bei Tier und Mensch!
Diese Arbeit eignet sich sehr gut für das Skizzenbuch!
Also alles irgendwie zeichnen, das um einen ist: die Tasse, den Löffel, die Zeitung, die Tastatur, Socken, Milchflasche, den Blick in den Kühlschrank, die eigenen Füsse, was auf der Fensterbank steht, was aus dem Fenster heraus zu sehen ist, den angebissenen Apfel usw
- Die verbleibende Hälfte sollte man schon gleich von Beginn an dafür verwenden, das Gelernte in konzentriert und bewusst als Werke konzipierte, fertige und signierte Arbeiten zu investieren.
Alle Warmups der Einheit 1 sind auch als Reihen und vollendet komponierbare Arbeiten denkbar. Gewöhnt euch rechtzeitig daran, Studien, Übungen und Skizzen zu verwerten!
Am Ende dann ein Passepartout darum und in einer Mappe sammeln.
So lernt man auch, sich ernst zu nehmen im Wunsch, das Zeichnen zu lernen.
Thema der Einheit 2, Überblick:
Der seltsame Titel dieser Einheit "Das SEHEN sehen lernen - die rechte Hirnhälfte kennenlernen" wird sich im Laufe der Einheit nach und nach klären.
Es heisst nicht, mein DENKEN zeichnen lernen...oder "den strukturellen Bauplan hinter der Erscheinung erkennen lernen und zeichnen". Sondern erst einmal nur: SEHEN. LERNEN. Sehen lernen.
Und dann aber merken, dass man sieht. Das Sehen ist phänomenal und unerklärlich vielseitig.
Dann, was man sieht.
Dann, dass das, was man sieht, hier und jetzt einzig ist und nicht irgendwie allgemein. Ich persönlich z.B. sehe keinerlei Grundkörper, Hilfslinien und Messpunkte, wenn ich einen Menschen da vor mir stehen sehe oder ein Kissen herumliegen oder oder.
Aber: Ich sehe Aufrechtes oder Liegendes, Biegungen, Knicke, Stauchungen, Gebogenes, Gestrecktes, Überschnittenes, Herausragendes etc.
Das ZEICHNEN macht das SEHEN sichtbar.
Ein Satz, den ihr euch unbedingt durch den Kopf gehen lassen und merken solltet. Das Zeichnen macht nicht so sehr das Zeichnen sichtbar, sondern mein Sehen, die Art und Weise, wie ich ganz persönlich mein Sehen erlebe.
Paradoxerweise hat die Autorin Betty Edwards, auf die ich mich in dieser Einheit vornehmlich stütze, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein sehr umfangreiches theoretisches und ziemlich revolutionäres Buch geschrieben, um eine Zeichenmethode zu erklären, deren Anwendung durch theoretische Beschreibung leider doch eher erschwert wird, weil die Beschreibung genau diejenige Instanz des Gehirns stärkt und anspricht, die dieser notwendigen anderen und speziellen Art der Wahrnehmung entgegensteht.
Es ist nicht das erste und nicht das letzte Paradoxon, das ich euch zumuten werde. Die Kunst ist an sich schon ein Paradoxon, überhaupt und sowieso...
Es wäre also völlig widersinnig, wenn ich euch wie sonst üblich erst eine Erklärung und Theorie voranschickte, um dann zu verlangen, dass ihr die Erklärung besser gleich wieder vergesst, um vorurteilsfrei aus einer anderen Region des Gehirns und der Wahrnehmung arbeiten zu können.
Aber darum geht es in den nächsten Stunden: Andere Regionen und Arten der Wahrnehmung kennenzulernen
Ich verlasse mich also vorerst darauf, dass ihr spürt und erfahren werdet, was sich dahinter verbirgt. D.h. wir werden die ersten beiden Stunden (24.4. und 8.5.) mit praktischen Übungen beginnen, die euch hoffentlich stutzig werden lassen. Die Theorie dazu folgt dann in der 3. Stunde am 15.5.
Praxis, erster Teil:
Mit den Warmups bzw Lockerungsübungen zur Einheit 2 werde ich euch vielleicht etwas überfordernd und provozierend in das für den Anfänger einschüchternde Thema des Menschenzeichnens einführen. Aber keine Angst, wir entwickeln dies in kleinen Schritten gemeinsam so, dass ihr auf jeden Fall zumindest interessante Erfahrungen machen werdet.
Hier geht es darum, erste Bekanntschaft damit zu machen, dass ihr euch euren Augen und damit eurer Wahrnehmung überlassen lernt und das Zeicheninstrument den Beobachtungen zu folgen hat.
Und nicht den Gedanken! Und nicht dem inneren gewussten Bauplan, den ich ja erst begriffen haben muss, bevor ich ihn zeichnen kann!
Es ist mir klar, dass das erst einmal völlig verunsichert, da man gerne die Sicherheit einer Hilfskonstruktion aus Vorzeichnungen, Bauplänen, Grundkörpern, Hilfslinien sucht, um dann zeichnen zu wollen, was man vor Augen hat - was voraussetzt, dass man schon zeichnen kann und schon weiss, was wesentlich ist... eine leider sehr verbreitete und erst recht paradoxe Annahme.
(Für diejenigen, die das theoretisch und philosophisch betrachten wollen: In dieser Einheit geht es darum, den Zwang zur Vorwegnahme, ANTIZIPATION genannt, zumindest zu schwächen, wenn nicht sogar völlig auszutricksen. Ein Vermögen, das im Strassenverkehr unbedingt sinnvoll ist, indem ich von vornherein weiss, was zu tun ist und mich dadurch schütze - was aber in der Zeichnung geradezu der Kunst-"Killer" ist, da ich ja im Grunde nichts mehr sehen muss, weil ich ja eh schon alles vorher weiss...fatal für den Zeichnenden.)
Methode:
Wir zeichnen möglichst "blind", d.h. ihr solltet euch nach und nach dazu bringen, immer weniger auf das Zeichenblatt zu sehen, sondern ganz beim Modell, dem Anblick zu verweilen und eure Zeichenspur eher wie eine Art "Seismogramm" nebenbei geschehen zu lassen.
Nebenbei: Fragt einmal ein Modell, woran es erkennt, wer ein guter Zeichner ist. In fast allen Fällen bekommt man zu hören, dass der gute Zeichner mit den Augen geradezu am Modell klebt und nur selten auf sein Blatt schaut, höchstens, um Anschlusspunkte wiederzufinden, während der unsichere Zeichner kaum auf das Modell schaut und alles auf dem Blatt irgendwie in den Griff kriegen will, evtl. nach einem inneren Modell, dass er gerade kann und das er stereotyp wiederholt, ohne das Eigene des Modells zu sehen.
Glaubt mir, es ist paradoxerweise wirklich so, dass euer Auge, wenn es Anschluss an eure Zeichenhand gefunden hat, besser und genauer weiss, wie es gehört, als man selbst.
Ja, zugegeben, das bricht mit dem romantischen Ideal des genialen und alles nur aus sich herausschaffenden Zeichner. Das Gegenteil ist in der Realität der Fall: Zum Zeichnen gehört sogar an sich eine gewisse Demut, der inneren und äusseren Natur (Wahrnehmung und Erscheinung) nicht dreinzureden, sondern dabei zuzuschauen lernen, wie diese ihre Arbeit verrichten.
Für alle diejenigen, die der vorgeschlagenen Sache skeptisch gegenüberstehe, möchte ich folgenden Vertrag anbieten:
Lasst euch für ein paar Wochen auf diese eventuell doch zu beunruhigende Erfahrung ein, wenigstens probeweise. Und zieht danach eure Schlüsse.
Zu den üblichen und gewohnten Methoden kann jeder danach immer wieder zurück. UNd ich werde euch dabei unterstützen.
Ich weiss, das Vorgeschlagene ist auf Anhieb nicht einfach. Man wehrt sich gegen den drohenden Kontrollverlust.
Das Ziel, die Belohnung dieser erst einmal ungemütlichen Erfahrung ist eine mehr oder weniger geglückte "SYNCHRONISATION" von Auge und Hand.
Je mehr ihr euch also auf das sog. Blindzeichnen einlasst, desto spürbarer, deutlicher und letztlich erfolgreicher wird diese Verknüpfung hergestellt.
Warmups der ganzen Einheit 2
Gestische 1-Minuten-Posen:
In dieser ersten Annäherung geht es darum, ein Modell, das jeweils für eine Minute stillsteht und "posiert", auf einfachste Weise relativ schnell und locker zu zeichnen.
Auf dieser ersten Stufe spielt es gar keine Rolle, wie ihr das macht. Es kann so schlecht wie möglich geschehen. Ich möchte geradezu, dass ihr zuerst so schlecht wie möglich zeichnet, weil die Zeichnung erst einmal Nebensache ist. Es geht darum, das Sehen zu erleben: Schaue ich genau und langsam oder haste ich hin und her? Sehe ich die Einzelheiten oder das Ganze? Komme ich unter Druck oder geniesse ich? Weiss meine Hand, was mein Auge anschaut oder zeichne ich meinen Gedanken und mein Vorwissen?
Es geht also erst einmal nur darum, dass ihr
- Hemmungen und Angst überwindet,
- überhaupt hinschauen lernt,
- dass ihr erlebt, was 1 konzentrierte Minute bedeutet und nach und nach ein Gefühl für die Zeichenzeit entwickelt,
- dass ihr einfache Unterschiede sehen lernt, wie: Steht das Modell aufrecht, gebeugt...was ist eigentlich sitzen, liegen, stehen, gespannt, schlaff usw. - und wie sag ichs meiner Hand, die dem Stift das Gesehene zu Protokoll gibt.
Klingt nicht nur banal, ist es auch. Aber entscheidend wird nun, dass man den Kern dieser Beobachtungen an die Zeichenhand mitzuteilen lernt. Auf dieser ersten Stufe geht es nicht um schöne Zeichnungen von den Modellen (ob Menschen oder den Dingen um uns herum), sondern, egal wie angespannt und nervös man das am Anfang auch machen wird, es geht darum, ein irgendwie geartetes Bündel oder Knäuel von Linien eurer zunehmend besser werdenden Beobachtung entsprechend auf das Blatt zu bringen - unwichtig, ob man eine menschliche Gestalt darin erkennt oder nicht - das kommt noch! Das verspreche ich.
Der eigentliche Lerninhalt, der unter der Hand damit entwickelt wird, ist eine Art von Mitgefühl/Empathie, die sich mit der Beobachtung entwickelt.
Eine Zeichnung hat meiner Ansicht nach nur dann Belang, Wirklichkeit und Qualität, wenn sie durch die Realität einer individuellen und echten Wahrnehmung gegangen ist.
Man kann eine sitzende Figur nur dann erkenn- und nachfühlbar zeichnen, wenn der persönliche Strich glaubhaft versichert, dass einem das abgebildete Phänomen "Sitzen" persönlich erlitten bekannt ist.
("Ideomotorisches Zeichnen" möchte ich das nennen, solange ich keinen besseren Begriff kenne. Das bedeutet, dass sich quasi automatisch ein durch die Beobachtung ausgelöstes Gefühl für das Gegenüber oder den Gegenstand auf die zeichnende Hand überträgt und die Linie mitgestaltet).
Wir werden in dieser zweiten Einheit die Warmups oder Lockerungsübungen mit ca. 15-20 1-Minuten-Posen beginnen. Ich werde allerdings jedesmal eine neue Herangehensweise vorschlagen.
Am 24.4. wurden diese Posen im "Freistilzeichnen" angefertigt, d.h. aus dem Bauch heraus wie es gerade kommt...
Übungen zur Einheit 2:
1.) Profile/Pokal-Bild
Man zeichnet als Linkshänder auf die rechte Seite eines A4-Querformats ein menschliches Kopfprofil, das nach links schaut. Als Rechtshänder beginnt man auf der linken Seite, das Kopfprofil schaut nach rechts..
Benennt beim Zeichnen die Teile, die ihr zeichnet: Das ist die Stirn, das ist die Nase, der Mund, das Kinn usw.
Zeichnet dann die symmetrische Entsprechung auf der anderen Seite des Blattes, sodass sich beide Profile zu einer "Pokal- oder Vasenfigur" ergänzen.
Registriert, dass euch bei der Anfertigung des zweiten - antwortenden - Profils völlig egal ist, WAS genau ihr da zeichnet, sondern wie sehr es viel wichtiger wird, WIE ihr es zeichnet und dass es eine ungefähre Entsprechung zum ersten Profil wird: "Das biegt hier so rum und wird da etwas spitzer..., die Form geht von da nach da, so lang etwa wie das da..."usw.
Dabei urteilt man unversehens nicht mehr sachlich, identifizierend und logisch, sondern ästhetisch - und genau darum geh es in dieser Einheit!
Das ist, so banal es zunächst auch aussehen mag, eine ganz andere Welt und eine ganz andere Herangehensweise an alle Erscheinungen der Welt. Hier genau entspringt der Zeichner in euch, hier ist die Quelle der Kunst.
2. Offene komplexe Symmetrie
Die oben beschriebene Beobachtung kann man anhand beliebiger Symmetriefiguren immer wieder erfahren und üben. Zeichnet als Rechtshänder auf die linke Seite des Blattes eine komplexe, irgendwie geformte Linie von oben nach unten und wiederholt die entsprechende symmetrische Figur auf der gegenüberliegenden Seite. Zuerst möglichst einfach, dann zunehmend komplexer.
Es sollte ein mehr oder weniger gelungener "Rotationskörper" entstehen.
Wenn man den entstandenen Zwischenraum übrigens ausfüllt mit Schraffur oder "Ausmalen", kann man sehr schnell sehen, wie gut die Symmetrie gelungen ist. Das braucht Übung. Jogging für die rechte Hirnhälfte sozusagen.
3. Strawinsky auf dem Kopf
Anhand einer auf den Kopf gestellten Figurzeichnung Picassos des Komponisten Stravinsky erfahrt ihr, dass man mit dieser Methode erstaunlicherweise sehr komplexe Kopien zu zeichnen in der Lage ist, die man sich unter normalen Umständen nie zugetraut hätte.
Der "Trick" besteht darin, dass man durch das Auf-den-Kopf-Stellen die vernünftige und vor allem identifizierende Zuordnung verstört und dabei der Zwang zur Benennung und Identifikation der Bildteile gezielt erschwert wird, sodass er sogar fast ganz nachlässt..
Irgendwann gibt der interner "Besserwisser" auf und lässt die ästhetische Seite des Gehirns ihre Arbeit tun...und dann erst wird es was.
Die Theorie dazu folgt später...
Diese Folie bitte auf den Kopf stellen beim Abzeichnen!