Samstag, 27. April 2013

Einheit 2 - 1: Das SEHEN sehen lernen - 24.4.13

Folien des Abends:




Zu Beginn der Stunde habe ich kurz skizziert, wie man üben sollte:


Zeit: 
Regelmässig, aber nie zu lange. Lieber eine qualitätsvolle halbe Stunde oder wenigstens 20 Minuten, als 2 Stunden Selbstquälerei. Versucht aber, ritualisierte, also wiederkehrende Übungszeiten zu schaffen, damit der Geist und  Körper quasi automatisch schon danach verlangen...der Rest kommt dann nach.
Zeichnen lernt man wie Autofahren, die gefahrenen Kilometer machen den Unterschied.


Leider habe ich noch kein Osmoseverfahren zum Zeichnenlernen entwickeln können, das hier eine Abkürzung verschaffte.


Raum:
Schafft euch einen Ort oder Platz, der euch selbst, aber auch anderen zeigt, dass euch Zeichnen wichtig ist. Wenn es nicht anders möglich ist, tut es natürlich eine wegräumbare Tischstaffelei und eine Box für Werkzeuge - aber letztlich braucht man die Erinnerung, die von einem Ort ausgeht. Eure Gedanken fangen dann von selbst an, um die Zeichenprobleme zu kreisen, wenn sie an einer festen Stelle der Wohnung dauernd vor Augen sind.
Ausreichend Licht von links für Rechtshänder, genug Raum zum Zurücktreten, wenigstens eine schiefgestellte Zeichenplatte auf der Tischkante, besser noch aber eine Staffelei oder gar ein richtiger Zeichentisch, eines Tages.


Was üben?
Jetzt schon haben wir mit den Warmups der vergangenen Stunden ein Programm für viele Monate - und jede Woche kommen weitere hinzu.
Man muss sich das Üben auch eines Meisters des Zeichnens vorstellen wie bei einem Musiker oder Sportler. Es gibt eine Menge an ständiger Schulung der Geläufigkeit, quasi Tonleitern, Streck- und Dehnübungen, Kraft- und Loslassübungen, die auch nach Jahrzehnten noch relevant sind.


Ich schlage für den Anfang folgende 3 Teile vor, bezogen auf 20 Minuten Gesamtübezeit:


- 5 Minuten Warmups ins Sudelheft, d.h. so anspruchslos und niederschwellig wie möglich. Zeichnen des täglichen "Misthaufens" (die Kürbisse wachsen von selbst da raus...). Bögen, Kreise, endloses Gekreise, Schlangenlinien, Gerade Linien, verwirrte Linien, völlig irre Linien


- 5 Minuten Seh-Übungen. So schlecht und simpel am Anfang wie möglich! Das meine ich total Ernst.
Am Anfang stresst euch bitte nicht mit dem scheiternden Versuch zur Abbildgenauigkeit. Es geht hier erst einmal überhaupt darum, hinzuschauen, sich Zeit zu nehmen, einfache alltägliche Dinge anzuschauen und deren "Geste", d.h. ihren Ausdruck, Richtung, Kraft etc. zu erfassen, also nicht, wie etwas genau ausschaut (da verliert man sofort gegen jeden billigen Fotoapparat), sondern, was die Dinge tun, WIE sie sind. Und besonders spannend wird das bei Tier und Mensch!
Diese Arbeit eignet sich sehr gut für das Skizzenbuch!
Also alles irgendwie zeichnen, das um einen ist: die Tasse, den Löffel, die Zeitung, die Tastatur, Socken, Milchflasche, den Blick in den Kühlschrank, die eigenen Füsse, was auf der Fensterbank steht, was aus dem Fenster heraus zu sehen ist, den angebissenen Apfel usw


- Die verbleibende Hälfte sollte man schon gleich von Beginn an dafür verwenden, das Gelernte in konzentriert und bewusst als Werke konzipierte, fertige und signierte  Arbeiten zu investieren. 
Alle Warmups der Einheit 1 sind auch als Reihen und vollendet komponierbare Arbeiten denkbar. Gewöhnt euch rechtzeitig daran,  Studien, Übungen und Skizzen zu verwerten!
Am Ende dann ein Passepartout darum und in einer Mappe sammeln.
So lernt man auch, sich ernst zu nehmen im Wunsch, das Zeichnen zu lernen.



Thema der Einheit 2, Überblick:

Der seltsame Titel dieser Einheit "Das SEHEN sehen lernen - die rechte Hirnhälfte kennenlernen" wird sich im Laufe der Einheit nach und nach klären.

Es heisst nicht, mein DENKEN zeichnen lernen...oder "den strukturellen Bauplan hinter der Erscheinung erkennen lernen und zeichnen". Sondern erst einmal nur: SEHEN. LERNEN. Sehen lernen.
Und dann aber merken, dass man sieht. Das Sehen ist phänomenal und unerklärlich vielseitig. 
Dann, was man sieht. 
Dann, dass das, was man sieht, hier und jetzt einzig ist und nicht irgendwie allgemein. Ich persönlich z.B. sehe keinerlei Grundkörper, Hilfslinien und Messpunkte, wenn ich einen Menschen da vor mir stehen sehe oder ein Kissen herumliegen oder oder. 
Aber: Ich sehe Aufrechtes oder Liegendes, Biegungen, Knicke, Stauchungen, Gebogenes, Gestrecktes, Überschnittenes, Herausragendes etc.


Das ZEICHNEN macht das SEHEN sichtbar.
Ein Satz, den ihr euch unbedingt durch den Kopf gehen lassen und merken solltet. Das Zeichnen macht nicht so sehr das Zeichnen sichtbar, sondern mein Sehen, die Art und Weise, wie ich ganz persönlich mein Sehen erlebe.


Paradoxerweise hat die Autorin Betty Edwards, auf die ich mich in dieser Einheit vornehmlich stütze, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein sehr umfangreiches theoretisches und ziemlich revolutionäres Buch geschrieben, um eine Zeichenmethode zu erklären, deren Anwendung durch theoretische Beschreibung leider doch eher erschwert wird, weil die Beschreibung  genau diejenige Instanz des Gehirns stärkt und anspricht, die dieser notwendigen anderen und speziellen Art der Wahrnehmung entgegensteht.
Es ist nicht das erste und nicht das letzte Paradoxon, das ich euch zumuten werde. Die Kunst ist an sich schon ein Paradoxon, überhaupt und sowieso...

Es wäre also völlig widersinnig, wenn ich euch wie sonst üblich erst eine Erklärung und Theorie voranschickte, um dann zu verlangen, dass ihr die Erklärung besser gleich wieder vergesst, um vorurteilsfrei aus einer anderen Region des Gehirns und der Wahrnehmung arbeiten zu können.
Aber darum geht es in den nächsten Stunden: Andere Regionen und Arten der Wahrnehmung kennenzulernen

Ich verlasse mich also vorerst darauf, dass ihr spürt und erfahren werdet, was sich dahinter verbirgt. D.h. wir werden die ersten beiden Stunden (24.4. und 8.5.) mit praktischen Übungen beginnen, die euch hoffentlich stutzig werden lassen. Die Theorie dazu folgt dann in der 3. Stunde am 15.5.


Praxis, erster Teil:
Mit den Warmups bzw Lockerungsübungen zur Einheit 2 werde ich euch vielleicht etwas überfordernd und provozierend in das für den Anfänger einschüchternde Thema des Menschenzeichnens einführen. Aber keine Angst, wir entwickeln dies in kleinen Schritten gemeinsam so, dass ihr auf jeden Fall zumindest interessante Erfahrungen machen werdet.

Hier geht es darum, erste Bekanntschaft damit zu machen, dass ihr euch euren Augen und damit eurer Wahrnehmung überlassen lernt und das Zeicheninstrument den Beobachtungen zu folgen hat
Und nicht den Gedanken! Und nicht dem inneren gewussten Bauplan, den ich ja erst begriffen haben muss, bevor ich ihn zeichnen kann!
Es ist mir klar, dass das erst einmal völlig verunsichert, da man gerne die Sicherheit einer Hilfskonstruktion aus Vorzeichnungen, Bauplänen, Grundkörpern, Hilfslinien sucht, um dann zeichnen zu wollen, was man vor Augen hat - was voraussetzt, dass man schon zeichnen kann und schon weiss, was wesentlich ist... eine leider sehr verbreitete und erst recht paradoxe Annahme.

(Für diejenigen, die das theoretisch und philosophisch betrachten wollen: In dieser Einheit geht es darum, den Zwang zur Vorwegnahme, ANTIZIPATION genannt, zumindest zu schwächen, wenn nicht sogar völlig auszutricksen. Ein Vermögen, das im Strassenverkehr unbedingt sinnvoll ist, indem ich von vornherein weiss, was zu tun ist und mich dadurch schütze - was aber in der Zeichnung geradezu der Kunst-"Killer" ist, da ich ja im Grunde nichts mehr sehen muss, weil ich ja eh schon alles vorher weiss...fatal für den Zeichnenden.)

Methode:
Wir zeichnen möglichst "blind", d.h. ihr solltet euch nach und nach dazu bringen, immer weniger auf das Zeichenblatt zu sehen, sondern ganz beim Modell, dem Anblick zu verweilen und eure Zeichenspur eher wie eine Art "Seismogramm" nebenbei geschehen zu lassen.

Nebenbei: Fragt einmal ein Modell, woran es erkennt, wer ein guter Zeichner ist. In fast allen Fällen bekommt man zu hören, dass der gute Zeichner mit den Augen geradezu am Modell klebt und nur selten auf sein Blatt schaut, höchstens, um Anschlusspunkte wiederzufinden, während der unsichere Zeichner kaum auf das Modell schaut und alles auf dem Blatt irgendwie in den Griff kriegen will, evtl. nach einem inneren Modell, dass er gerade kann und das er stereotyp wiederholt, ohne das Eigene des Modells zu sehen.
Glaubt mir, es ist paradoxerweise wirklich so, dass euer Auge, wenn es Anschluss an eure Zeichenhand gefunden hat, besser und genauer weiss, wie es gehört, als man selbst. 
Ja, zugegeben, das bricht mit dem romantischen Ideal des genialen und alles nur aus sich herausschaffenden Zeichner. Das Gegenteil ist in der Realität der Fall: Zum Zeichnen gehört sogar an sich eine gewisse Demut, der inneren und äusseren Natur (Wahrnehmung und Erscheinung) nicht dreinzureden, sondern dabei zuzuschauen lernen, wie diese ihre Arbeit verrichten. 

Für alle diejenigen, die der vorgeschlagenen Sache skeptisch gegenüberstehe, möchte ich folgenden Vertrag anbieten:
Lasst euch für ein paar Wochen auf diese eventuell doch zu beunruhigende Erfahrung ein, wenigstens probeweise. Und zieht danach eure Schlüsse.
Zu den üblichen und gewohnten Methoden kann jeder danach immer wieder zurück. UNd ich werde euch dabei unterstützen.

Ich weiss, das Vorgeschlagene ist auf Anhieb nicht einfach. Man wehrt sich gegen den drohenden Kontrollverlust.
Das Ziel, die Belohnung dieser erst einmal ungemütlichen Erfahrung ist eine mehr oder weniger geglückte "SYNCHRONISATION" von Auge und Hand.
Je mehr ihr euch also auf das sog. Blindzeichnen einlasst, desto spürbarer, deutlicher und letztlich erfolgreicher wird diese Verknüpfung hergestellt. 



Warmups der ganzen Einheit 2

Gestische 1-Minuten-Posen:

In dieser ersten Annäherung geht es darum, ein Modell, das jeweils für eine Minute stillsteht und "posiert", auf einfachste Weise relativ schnell und locker zu zeichnen.
Auf dieser ersten Stufe spielt es gar keine Rolle, wie ihr das macht. Es kann so schlecht wie möglich geschehen. Ich möchte geradezu, dass ihr zuerst so schlecht wie möglich zeichnet, weil die Zeichnung erst einmal Nebensache ist. Es geht darum, das Sehen zu erleben: Schaue ich genau und langsam oder haste ich hin und her? Sehe ich die Einzelheiten oder das Ganze? Komme ich unter Druck oder geniesse ich? Weiss meine Hand, was mein Auge anschaut oder zeichne ich meinen Gedanken und mein Vorwissen?

Es geht also erst einmal nur darum, dass ihr

- Hemmungen und Angst überwindet,
- überhaupt hinschauen lernt,
- dass ihr erlebt, was 1 konzentrierte Minute bedeutet und nach und nach ein Gefühl für die Zeichenzeit entwickelt,
- dass ihr einfache Unterschiede sehen lernt, wie: Steht das Modell aufrecht, gebeugt...was ist eigentlich sitzen, liegen, stehen, gespannt, schlaff usw. - und wie sag ichs meiner Hand, die dem Stift das Gesehene zu Protokoll gibt.

Klingt nicht nur banal, ist es auch. Aber entscheidend wird nun, dass man den Kern dieser Beobachtungen an die Zeichenhand mitzuteilen lernt. Auf dieser ersten Stufe geht es nicht um schöne Zeichnungen von den Modellen (ob Menschen oder den Dingen um uns herum), sondern, egal wie angespannt und nervös man das am Anfang auch machen wird, es geht darum, ein irgendwie geartetes Bündel oder Knäuel von Linien eurer zunehmend besser werdenden Beobachtung entsprechend auf das Blatt zu bringen - unwichtig, ob man eine menschliche Gestalt darin erkennt oder nicht - das kommt noch! Das verspreche ich.

Der eigentliche Lerninhalt, der unter der Hand damit entwickelt wird, ist eine Art von Mitgefühl/Empathie, die sich mit der Beobachtung entwickelt. 
Eine Zeichnung hat meiner Ansicht nach nur dann Belang, Wirklichkeit und Qualität, wenn sie durch die Realität einer individuellen und echten Wahrnehmung gegangen ist. 
Man kann eine sitzende Figur nur dann erkenn- und nachfühlbar zeichnen, wenn der persönliche Strich glaubhaft versichert, dass einem das abgebildete Phänomen "Sitzen" persönlich erlitten bekannt ist.
("Ideomotorisches Zeichnen" möchte ich das nennen, solange ich keinen besseren Begriff kenne. Das bedeutet, dass sich quasi automatisch ein durch die Beobachtung ausgelöstes Gefühl für das Gegenüber oder den Gegenstand auf die zeichnende Hand überträgt und die Linie mitgestaltet).

Wir werden in dieser zweiten Einheit die Warmups oder Lockerungsübungen mit ca. 15-20 1-Minuten-Posen beginnen. Ich werde allerdings jedesmal eine neue Herangehensweise vorschlagen.


Am 24.4. wurden diese Posen im "Freistilzeichnen" angefertigt, d.h. aus dem Bauch heraus wie es gerade kommt...


Übungen zur Einheit 2:

1.) Profile/Pokal-Bild
Man zeichnet als Linkshänder auf die rechte Seite eines A4-Querformats ein menschliches Kopfprofil, das nach links schaut. Als Rechtshänder beginnt man auf der linken Seite, das Kopfprofil schaut nach rechts..
Benennt beim Zeichnen die Teile, die ihr zeichnet: Das ist die Stirn, das ist die Nase, der Mund, das Kinn usw.
Zeichnet dann die symmetrische Entsprechung auf der anderen Seite des Blattes, sodass sich beide Profile zu einer "Pokal- oder Vasenfigur" ergänzen.

Registriert, dass euch bei der Anfertigung des zweiten - antwortenden - Profils völlig egal ist, WAS genau ihr da zeichnet, sondern wie sehr es viel wichtiger wird, WIE ihr es zeichnet und dass es eine ungefähre Entsprechung zum ersten Profil wird: "Das biegt hier so rum und wird da etwas spitzer..., die Form geht von da nach da, so lang etwa wie das da..."usw.

Dabei urteilt man unversehens nicht mehr sachlich, identifizierend und logisch, sondern ästhetisch - und genau darum geh es in dieser Einheit! 

Das ist, so banal es zunächst auch aussehen mag, eine ganz andere Welt und eine ganz andere Herangehensweise an alle Erscheinungen der Welt. Hier genau entspringt der Zeichner in euch, hier ist die Quelle der Kunst.



2. Offene komplexe Symmetrie
Die oben beschriebene Beobachtung kann man anhand beliebiger Symmetriefiguren immer wieder erfahren und üben. Zeichnet als Rechtshänder auf die linke Seite des Blattes eine komplexe, irgendwie geformte Linie von oben nach unten und wiederholt die entsprechende symmetrische Figur auf der gegenüberliegenden Seite. Zuerst möglichst einfach, dann zunehmend komplexer. 
Es sollte ein mehr oder weniger gelungener "Rotationskörper" entstehen.
Wenn man den entstandenen Zwischenraum übrigens ausfüllt mit Schraffur oder "Ausmalen", kann man sehr schnell sehen, wie gut die Symmetrie gelungen ist. Das braucht Übung. Jogging für die rechte Hirnhälfte sozusagen.


3. Strawinsky auf dem Kopf
Anhand einer auf den Kopf gestellten Figurzeichnung Picassos des Komponisten Stravinsky erfahrt ihr, dass man mit dieser Methode erstaunlicherweise sehr komplexe Kopien zu zeichnen in der Lage ist, die man sich unter normalen Umständen nie zugetraut hätte.
Der "Trick" besteht darin, dass man durch das Auf-den-Kopf-Stellen die vernünftige und vor allem identifizierende Zuordnung verstört und dabei der Zwang zur Benennung und Identifikation der Bildteile gezielt erschwert wird, sodass er sogar fast ganz nachlässt.. 
Irgendwann gibt der interner "Besserwisser" auf und lässt die ästhetische Seite des Gehirns ihre Arbeit tun...und dann erst wird es was.
Die Theorie dazu folgt später...


Diese Folie bitte auf den Kopf stellen beim Abzeichnen!
















Samstag, 20. April 2013

Einheit 1 - 4.Stunde - Textur und Struktur - 17.4.13

Folien des Abends:


Zu Beginn des Abends habe ich zum Abschluss der ersten Einheit noch einmal zusammengefasst, was wir "aus dem Stand" sozusagen oder von 0 aus mit der Linie erleben können. 
Ohne jede Voraussetzung kann jeder Mensch, der einen Stift halten und die Bleistiftspitze identifizieren kann, Linien produzieren, die

- Empfindungen und innere und äussere Bewegungen protokollieren (1.Stunde),

- diese Bewegungen (wie in der Musik) mal stärker oder schwächer, mal schneller oder langsamer, mal kontinuierlicher oder abgehackter darstellen (2.Stunde), 

- auf einem Spielfeld (das Zeichenblatt genannt) mehr oder weniger spannungsvoll in Aktion und Pausen verteilt werden können (3.Stunde) ,

und wie heute

- ganz konzentriert und beinahe meditativ zu mehr oder weniger belebten Texturen und Strukturen verwoben werden können (4.Stunde).


Nachdem wir also in der vergangenen Stunde mit grosszügigem und entspanntem Blick auf "Das Große Ganze" zu achten lernten, steht diesmal das krasse Gegenteil, nämlich  "Das winzigste Detail" an (Ihr seht, ich mag es, in Gegensätzen/Polaritäten zu denken).
Heute ist endlich der grosse Tag der "Controllettis", die mit Geduld und Pingeligkeit feinst ihr Gewebe konzentriert zu Ende kritzeln, während die Grosszügigen heute schwer leiden und stöhnen...
Denn heute geht es um den geduldigen, scharfen Blick auf das allerkleinste Detail.

Im Kern geht es um die zeichnerische Feinstruktur, d.h. statt wie bisher locker zu kritzeln, werden wir heute geduldig ins Allerkleinste der Zeichnung gehen.

Phantasie ist gefragt, wenn hier so viele Kleinstelemente, Kürzel, Krümel aus allen nur denkbaren visuellen Bereichen zusammenkommen:
- Schriftzeichen, zerlegt in ihre Kleinstbausteine
- Hieroglyphen, alte Schriftsysteme (Keilschrift etwa...)
- Pünktchen, Häkchen, Schnörkel aller Art und Grösse
- Zeichen, wie man sie auf Landkarten verwendet
- Ornamente
- Botanische, mathematische oder sonstige Kürzel

All das birgt Elemente, die man für alle Arten von Zeichnungen nutzen sollten. Es geht darum, geduldig eine Oberfläche, ein Gewebe und Gewimmel von Kleinstformen miteinander so zu verweben, dass diese eine lebendige Struktur wie aus einem feinen Stoff ergeben. Das verlangt natürlich Durchhaltevermögen.
Es darf durchaus geschehen, dass man dabei plötzlich meditativ und wie in Trance arbeitet.

Zu beobachten gilt es ab jetzt und für immer (;-)) Muster aller Art, sammelt Ornamente, Muster, Verzierungen, Schnörkel etc. Beobachtet, wie Zeichner auf detaillierten Radierungen die Oberflächen der Dinge mit Hilfe unzähliger addierter Kleinstformen wiedergeben, um so die Erscheinung von bestimmten Materialien nachzuahmen.

Es geht diesmal auch um den langen Atem, die Geduld, eine grosse Fläche langsam zu Ende zu zeichnen. Es geht auch um pfiffige Strategien, nur den Anschein davon zu erwecken, indem man an den entsprechenden Stellen weglässt und es der Phantasie des Betrachters überlässt, das angefangene Muster im Geist zu ergänzen.

Die ausgeteilten Kopie aus dem Daucher S.35 zeigt diese Strategie deutlich, hier ist weniger gezeichnet, als man zunächst annimmt!




Dass das nicht Übungen nur für den Anfänger sind, sondern durchaus eines Profis würdig sein kann, zeigen meisterhaft Könner wie Horst Janssen und Jean Dubuffet:

 Meine Interpretationen dieser Herangehensweise habe ich vor etliche Jahren angefertigt:

"Herr K. am Abend"

"Ekstatische Botanik" und "Langer langer Brief auf einem Blatt"


"Horror vacui" oder "Die Angst des Zeichners vor dem leeren Blatt"

(Alles ca. Mitte 1980)

Buch des Abends: 
Prof. D.Brembs, Faszination Linie, Wiesbaden

Das vorgestellte Buch wird uns noch einige Male begegnen, wenn wir uns in unseren Warmups mit den Besonderheiten der Linienarten beschäftigen:




 Warmup und Übungen (= Hausaufgabe)




Für das Warmup habe ich mir etwas Besonderes einfallen lassen: "Komposition aus Buchstaben".
Das ist eine Vorübung für das Zeichnen von Texturen. (Man sollte dabei mal über die Verbindung und Verwandtschaft von "Text" und "Textur"ja sogar auch "Textilie" nachdenken. Bei allen geht es um Gewebe...)

Nehmt also euren Namen oder sonst ein geläufiges Wort, schreibt die einzelnen Buchstaben in alle Richtungen, in verschiedener Grösse, mal verkehrt herum, mal nur Fragmente eines Buchstabens, verbindet die entstehenden Flächen zu Figuren, zerlegt die Buchstaben in ihre Bestandteile: Pünktchen, Haken, Kreuzung, Bogen und spielt den ganzen Vorrat an Figuren in allen Grössen und Richtungen durch!
Nebenbei kann diese Übung eine Art "Einfallsmaschine"werden, indem man sich mit den entstehenden Formen und Strukturen auf Kompositions- und Zeichenideen bringen kann (was ich im Anhang bei den Ergebnissen zeige).

Es gilt ab jetzt immer: SPIELT und setzt euch dabei nicht unter Druck!
Zeichnen gehört in den Bereich der MUSEN, nicht MUSSE!


Übung des Abends:

Ich habe euch 2 mögliche Themen gegeben, die man formatfüllend auf einem mind. A4-grossen Zeichenblatt anfangen sollte (da es sehr kleinteilig zugehen sollte, wird euch nichts anderes übrig bleiben, als die Zeichnung geduldig und mitunter auch nur minutenweise zu Hause fertigzustellen - aber bitte stellt sie fertig, euch selbst zuliebe, auch wenn es schwer fällt... Vielleicht dämmert diesem oder jener nebenbei der tiefere Sinn der Sache...):

1) "Eintausend fantastische Blüten blühen auf meiner Wiese" - von oben also ein Blick auf ein Meer von Blütenformen und -zeichen. Ein Lexikon der Botanik ist hier hilfreich oder ein Spaziergang mit wachem Blick...

2) "Bakterienkrieg". Die guten (rundlichen?) gegen die bösen (spitzigen, stachligen??) Kleinstformen liegen im Kampf miteinander...es wird ja nicht überall gekämpft, also gibt es gut verteilt Schauplätze...



Ergebnisse des Warmup
(Ergebnisse der Übungen werden - falls es welche gibt ;-) nächste Woche veröffentlicht):








Montag, 15. April 2013

Einheit 1: Rhythmus - 10.4.13

Rhythmus

Diese Einheit gehört zu den Wichtigsten des ganzen Kurses:
Es gilt zu lernen, auf das grosse Ganze einer Zeichnung zu achten.

Wir werden in einer späteren Einheit etwas genauer untersuchen, welche Gesetze die Verteilung von Hell und Dunkel oder anderer Bildelemente bestimmen. Jetzt aber geht es erst einmal auf einfachste Weise darum, ein Gefühl für die Aufteilung einer Zeichenfläche zu entwickeln.

Nach wie vor bitte ich, um die Zeichnung immer zuerst einen Rahmen zu zeichnen. Es mag stur erscheinen, aber meine Absicht ist es, damit bewusst zu machen, dass man mit jeder Aktion ein empfindliches Gleichgewicht von Strichen, Linien, Punkten und Flächen erstellt. Diese sind immer auf die 4 Seiten der Zeichenfläche bezogen.
Nicht umsonst heisst es, dass mit der Wahl eines bestimmten Formats schon die ersten 4 Linien eines Bildes gezogen sind.

Ihr solltet bemerken, dass das FORMAT die erste wichtige Entscheidung bei der Gestaltung einer Zeichnung ist und ein erstes, wichtiges Element des Rhythmus' - oder für alle Musikfreunde: So etwas wie der "Generalbass".

"Rhythmus" heisst diese Einheit, weil man mit jeder gezogenen Linie und mit jeder gekritzelten oder schraffierten Fläche eine Abwechslung oder einen Unterschied schafft, was sich als Abfolge von Leere und Aktion (Etwas und Nix, Hell und Dunkel, Leben und Tod, Yin und Yang usw...) darstellt, so wie ein Händeklatschen oder Fußstampfen eine zeitliche Abfolge markiert und strukturiert. In der Musik ergibt dies den "Puls" eines Stückes.
Was analog auch für die Zeichnung gilt.

In dieser ersten Annäherung an das Phänomen der Aufteilung und des visuellen Rhythmus genügen simple gekritzelte Verdichtungen und Auflockerungen, wie sie unten in der Fotokopie der Seite 24 aus Hans Daucher: "Die Grosse Zeichenschule" in der Stunde begegnet sind.
Wenn ihr euch nicht sicher seid, welche Aufteilung ihr bevorzugt oder für geeignet findet, kritzelt zur Vorbereitung einfach einmal bewusst einige der vorgestellten Lösungen nach, ihr werdet rasch merken, was irgendwie gut erscheint - oder schlicht langweilig, einfallslos und spannungsarm.
"Spannung" ist überhaupt ein wichtiges Wort in diesem Zusammenhang!

Rhythmus in der Zeichnung bedeutet in diesem ersten Schritt nur so etwas wie ein "AKZENTMUSTER" - mehr erst einmal nicht.
Sucht jetzt bitte nicht nach einer perfekten Lösung, nach einem perfekten Gesetz oder Rezept, sondern folgt dem, was ihr für richtig und angenehm haltet, sozusagen "aus dem Bauch heraus". Ihr werdet erleben, dass wir unbewusst bzw. kulturell vorgeprägt bestimmten Vorlieben folgen, die sich später auch beinahe mathematisch begründen lassen. Das muss uns jetzt allerdings nicht wirklich belasten.

Wenn es um "Blickregie" geht, d.h. darum, den Blick des Betrachters auf eine bestimmte, dramatische Stelle der Zeichnung zu lenken, die der ganzen Zeichenmühe überhaupt erst den Sinn verleiht, nutzen alle grossen Zeichner seit jeher diese Elemente der Aufteilung und Rhythmisierung des Zeichenblattes, gleichgültig nun, ob Van Dyck eine dramatische Szene um einen kosmischen Kuss webt oder der völlig abstrakte Franz Kline, der es bei der Spannung an sich belässt mit Zeichen, die nie eindeutig zu bestimmen sind - aber man kann es dennoch fühlen, dass die Sache irgendwie "sitzt", dass die Architektur aus Zeichen und Leere "stimmt".


Warmups oder Lockerungsübungen:


Nachkritzeln einiger Helligkeitsverteilungen aus Daucher, S.24


Und hier Herrn Dauchers Meinung dazu - wohlgemerkt, seine Meinung:



Übung zur Helligkeitsverteilung 1:





Anhand von Verkleinerungen von Radierungen Rembrandts, der ein Meister der Helligkeitsverteilung war, kann man sich hiermit in die Denk- und Beobachtungsweise dieses Lernschrittes einüben.

Wählt zunächst einmal eine Abbildung (ruhig auch auf den Kopf gestellt) aus, die euch zusagt und kritzelt nur die Verteilung der Flecken nach, ohne auf die Details der Erzählung zu achten. Ihr könnt auch gerne völlig abstrakt in hellen und dunklen Drei- und Vierecken oder Kreisen denken.
Schaut auch bewusst einmal, was genau euch an den euch unsympatischen Lösungen stört - gerade da lernt man oft am Meisten.
Ein kleiner Trick: Schaut durch die Wimpern des fast geschlossenen Auges. Mit diesem Abblendtrick gelingt es oft am Besten, das Hell-Dunkel-Muster zu identifizieren.
Ihr dürft gerne alle Vorlagen in jeder denkbaren Grösse nachzeichnen!

Das Werk Picassos ist für diese Übungen auch gut geeignet, da er auch ein besonders kreatives Aufteilungsgefühl besaß.



Übung zur Helligkeitsverteilung 2:

Wählt aus den Reproduktionen von Zeichnungen aus verschiedenen Epochen (siehe unten im Anhang) eine Arbeit aus, die euch entweder zusagt oder besonders provoziert und versucht nur kritzelnd mit dem Zeichenrepertoire, das wir in den letzten Wochen schon erarbeitet haben, den Kern der Zeichnung nachzuzeichnen.
- Achtet zuerst einmal auf das Gesamtformat und wo der betreffende Meister Akzente setzte.
- Achtet darauf, welches Verhältnis helle und dunkle Stellen haben,
- wo der Zeichner weggelassen oder durch viele Linien betont hat.
- Zeichnet nicht so sehr die Figuren, Gesichter und Details nach, sondern achtet zunächst nur auf den groben Aufbau und die Art der eingesetzten Linien (wo gibt es lange Geraden, wo kurze, staccato gesetzte Linien, wo Schwünge, wo Gebogene ?).

Diese Übungen sind nebenbei auch ein erster Kontakt mit der traditionellen Lernmethode der "KOPIE", die ich jedem Zeichenschüler unbedingt nahelege. Kopieren muss nicht immer bedeuten, exakt nachzuzeichnen, was ein alter oder neuer Meister vorlegt, sondern kann auch in einer individuellen INTERPRETATION bestehen, die sich die Vorlage mehr oder weniger frei erschliesst und dabei des Meisters Denke nachvollzieht - und man entdeckt evtl.dabei, dass die Lösungen plötzlich die Jahrhunderte übergreifen...

Ein Verfahren übrigens, das in der Musik üblich und legitim ist - weshalb nicht in der Zeichnung und Malerei?


Ich bitte, die folgenden Vorlagen auf diese Weise zu INTERPRETIEREN, mit all den Zeichenelementen, die bisher begegnet sind. Die Bilder auf den Kopf und sogar obendrein den Blick gedimmt unscharf zu stellen, kann dabei hilfreich sein.
(Bitte auf das jeweilige Bild klicken, es sollte sich eine vergrösserte und ausdruckbare Version des Bildes in einem neuen Browserfenster öffnen)












Weitere Anregung:
Schaut in Kunstbüchern und - katalogen, in Kunstkalendern und Zeitschriften nach Bildvorlagen mit interessanten Formataufteilungen. Sammelt und interpretiert diese so viel und oft es geht. Auf diese Weise erarbeiten man sich ein ganzes Arsenal von Lösungen, die man auf andere Zeichenaufgaben übertragen kann.