Einheit 1 - Die Linie an sich
Zu Beginn des Abends habe ich Ihnen einen ersten Überblick über die Inhalte des gesamten Kurses gegeben und Ihnen zu erklären versucht, welchen Stellenwert meiner Meinung nach die Herangehensweisen haben, die wir von Natur aus schon mit uns bringen und die nur spielerisch zu Tage gefördert werden müssen.
Wir bringen generell viel mehr schon mit, als uns zumeist bewusst ist.
Zunächst geht es also darum, sich locker und unverkrampft ohne Druck an das Blatt zu wagen, ungehemmt Bewegungen zuzulassen, die das großformatige Zeichnen erfordert, die Haltung eines Stiftes zu üben, die eigene Haltung zu erkennen und Aufmerksamkeit für die eigenen Herangehensweisen zu üben. Und vor allem: Sich nicht beurteilen lernen - denn das Bewerten verhindert generell den Lernfortschritt.
Gewonnen hat vorerst die schlechteste Zeichnung!
Überblick über alle Einheiten und deren Lernziele:
Einheit 1: Motorisches Produzieren; LINIE an sich.Hier geht es um Ausdruck, E-Motion. Output. Einfach TUN und (innere und äussere) Bewegung zulassen! Im Kern eine Bedeutung des Wortes Emotion. Zeichnen aus dem Bauch in den Arm auf das Blatt - so simpel.
Wir gehen vom spontanen, voraussetzungslosen und ungegenständlichen Gekritzel im Viereck aus, das die Fein- und Grobmotorik des Zeichners bewusst macht aus.
Einheit 2: Sensorisches Protokollieren; Eindruck; Input:
Hier geht es um das Sehenlernen durch Blindzeichnen und "Augenreisen", die die Hand wie ein Seismograph protokolliert.
Wir lernen, unser SEHEN sichtbar zu machen. Generell möchte ich das den Kern des Zeichnens nennen.
Die Einheiten 1 und 2 werden uns bis zum Ende des Semesters beschäftigen (Juli 2013)
Ab Oktober 2013 erkunden wir stärker die traditionellen Methoden des Zeichnens:
Einheiten 3 und 4: Intellektuelle Analyse der Erscheinungen nach bewährten Methoden und Rezepten / Das klassische Fundament.
Wir erkunden die Grundlagen des traditionellen Zeichnens, das sich messend und vergleichend die kulturell etablierten Regeln des Sichtbaren erarbeitet.
Einheit 5: Synthese, Persönlichkeit, subjektive Originalität, Kreativität.
Hier werden wir am Ende alle Elemente zusammenzuführen - was im glücklichsten Fall dann auch das (subjektiv oder objektiv) Neue vor Augen zu stellen in der Lage wäre...
"Es ist so schön, der Linie beim Entstehen zuzuschauen" (Zitat des Abends)
Im Zentrum der ersten Stunde und der nächsten Abende dieser ersten Einheit steht die LINIE an sich. Die Linie als persönlicher Ausdruck, als quasi "seismografisches", motorisches Phänomen.
Die Linie an sich entsteht aus der Bewegung (man kann auch sagen aus der Emotion, was auch der Wortsinn sagt: ex movere = hinaus gehen, aus sich gehen...).
Die Linie ist dynamisch, ein aus der Ruhe gebrachter Punkt mit mehr oder weniger klarem Ziel und in gewisser Spannung.
Die Linie macht sichtbar, was vorher unsichtbar in uns war. Sie kann uns damit überraschen.
ABER WICHTIG: Sie zeichnen zu Beginn, ohne etwas fest Umrissenes abzubilden! (Also bitte keine Symbole: keine Herzen, Bäume, Münder, Spiralen und vor allem keine starrenden Augen, die sofort die Aktion bannen! Probieren Sie es aus, einmal gesetzt, werden sie diese bedeutungsschwangeren "Magneten des Blicks" nicht mehr los und die ganze Zeichnung kreist darum...)
Sie bilden also vorerst nur die Linie selbst ab. Diese steht in Verbindung mit Ihrer Aktion, ihrer Bewegung, ihren Entscheidungen. Das zu merken und zuzulassen ist der erste und auch künftig entscheidende Schritt. Alles geschieht im Augenblick und in der Gegenwart, alles, was man sich vorgestellt hat, sieht im Tun sowieso immer anders aus. Empfindlich zu werden für diesen Dialog mit sich und dem Entstehenden und Geistesgegenwart zu schulen - das ist im Kern das Ziel dieser ersten Einheit. Ein Anfang und zugleich im Prinzip das, was uns als Zeichnende immer beschäftigen wird. Vor dem Modell, dem Gegenstand oder dem momentanen Einfall wird man immer mit leeren Händen stehen - und das ist gut so, daraus wird eine echte Zeichnung!
Dass Sie sich trotzdem immer etwas dabei denken, dass ihre Linie etwas anspielt, an etwas erinnert, ist unumgänglich - und das ist das eigentliche Geheimnis jeder Linie. Insbesondere Ihrer persönlichen Linie, die Sie zunehmend erkennen, entwickeln, mit Kenntnis und Gefühl aufladen werden. Zum Glück ist die Linie damit zugleich auch "geheimcodiert", kein Mensch kann ahnen, was man gedacht hat...meistens...
Die Linie ist an sich und sie ist immer auch noch etwas anderes...
Sie sehen und beobachten, welche Extreme eine Linie darstellen kann: von der zielenden Geraden über die wandernden Gebogenen bis zur nervös suchenden Tatterei. Die auch gut ist. "Reuelinien" heissen manche Linienarten tatsächlich. Und wie die Linie mit Ihren Stimmungen und Entscheidungen, Ihrem Atem, den Ängsten, Verkrampfungen und (Hauruck...)-Lösungen oder Ihrer Feinheit, ihrer Vorsicht, dem Kontrollbedürfnis oder der Entschiedenheit oder Unsicherheit zusammenhängt.
Auch wenn Sie später das von ihrem Innern fernliegendste Abbild eines Objektes schaffen - es wird immer Ihre Linie sein, die die Zeichnung schafft. Sie entgehen Ihr selten - eigentlich fast nie - es sei denn, man möchte zur Maschine, zum Fotoapparat werden, perfekt und kühl beherrscht...das kann man, das aber verlässt dann oft den Zeichenkunstbereich.
Zum Zeichnen gehört eine Haltung:
Es gibt keine falsche oder richtige Haltung - aber es gibt eine zweckdienliche innere und äussere Haltung. Diese werden wir je nach Aufgabe und Gegenstand miteinander erarbeiten.Ich habe Ihnen zu Beginn eine der üblichen Schreibstifthaltung entgegengesetzte Zeichenhaltung des Stiftes demonstriert und zur Nachahmung empfohlen:
Mit dieser unüblichen Haltung verlieren Sie erst einmal die gewohnte Kontrolle. Sie werden sie anfangs deshalb bestimmt auch nicht mögen und spontan in alte Gewohnheiten zurückwollen - aber geben Sie nicht zu schnell auf, erproben Sie die Möglichkeiten anderer Haltungen. Denn Sie gewinnen mit der Zeit einen ungeheuren Freiraum des Ausdrucks.
Fassen Sie den Stift unterschiedlich an, mal weit hinten, dann ganz vorne, drücken Sie fest oder lassen sie die Spitze ohne Anstrengung fein und leicht tanzen...Sie werden die vielen Ausdrucksnuancen erfahren, je öfter Sie in dieser Haltung üben.
Allgemeines zu den allabendlichen WARMUPS:
Wir werden alle diese wichtigen Vor-Einstellungen und Feinjustierungen des Körpers und Geistes, des Atmens, der Werkzeugbehandlung immer mit den sogenannten WARMUPS entwickeln. Lockerungsübungen also, wie sie der Sportler und Musiker kennt, warum nicht auch der Zeichner?
Hausaufgabe bis Juli 2013: Produzieren Sie tausende Sudelblätter voller Warmups, verbrennen Sie den Mist, behalten Sie die guten, schneiden Sie Überraschendes aus und kleben es auf ein Blatt. Sammeln Sie diese Erfahrungen.
Am Anfang bitte ich Sie die Warmups und Übungen mit nicht allzu filigranen, kultivierten Werkzeugen, sondern den groberen Fettkreiden oder Grafitblöcken zu zeichnen. Das Spitzen ist eine Kunst, die ich Ihnen erst zeigen möchte. Feine Kohlen sind schön, aber verlangen eine geübte Hand. Das kommt später.
Jedes Warmup sollte möglichst grossformatig (mindestens 60x40, je grösser, desto besser) in Körperdimension gezeichnet werden. Ich möchte am Anfang, dass Sie sich das Spielfeld durch die gezeichnete Umgrenzung eines rahmenden Vierecks bewusst machen. Es soll Ihnen im Laufe der Zeit auffallen, dass jede Spur und Linie eine kompositionelle Entscheidung ist und jedesmal das Spiel entscheidend verändert.
Thema des Abends war die Erfahrung der beiden unterschiedlichen Arten von Linien:
- Die Gerade, die an sich immer etwas zielstrebiges, trennendes und klares hat.
- Die Gebogene, die sich entweder zu sich zurück bewegt (Kreis) oder wandernd, verspielt bis ziellos umher streift.
Andere Grundlinienarten kenne ich persönlich nicht, wenn jemand noch eine andere finden sollte, her damit...
WARMUP 1:
Die erste Übung zur Geraden diente dazu, das Spielfeld zu eröffnen und mit mehr oder weniger entschiedenen geraden Strichen zu füllen. Kreuz und quer. Bis das Blatt voll ist. Sie werden staunen, wieviele Stunden Striche so ein Blatt aushält bis es schwarz von Strichen ist...
(Strich. Linie. Spur. Marke)
Die zweite Übung zur Geraden sollte eine erste Aufgabe an die Gerade stellen, indem sie zielgerichtet gezeichnet wird:
Hier ging es um den oft selbstentmutigenden Mythos von der Geraden, die der Anfänger immer behauptet, nie und nimmer ziehen zu können. Und Sie können es doch! Wetten?
Man muss nur wissen, wie:
Setzen Sie einen Ausgangspunkt A und einen Zielpunkt B, fassen Sie das Ziel ins Auge, setzen Sie die Stiftspitze auf A. Schauen Sie nicht auf den Stift, sondern schauen Sie auf das Ziel. Zeichnen Sie nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Ziehen Sie die Linie in der Länge eines Atemzugs! Ziehen Sie kreuz und quer aus allen Richtungen. Mal stark, mal schwach.Sie sehen: Die Gerade ist gar kein Problem.
Diese ersten Übungen sollen Ihnen zeigen, dass Sie mit der Vorgabe, von einem Ausgangspunkt A zu einem Zielpunkt B eine Gerade zu zeichnen in der Lage sind, wenn Sie das ZIEL ins Auge fassen und nicht allzu verkrampft und ängstlich auf die Ausführung der Spur unter der Stiftspitze starren. Dies gilt konkret wie mental. Sie dürfen diese Erfahrung auch auf den ganzen Kurs beziehen. Ob Sie das Ziel treffen, ist zweitrangig. So ist das Leben eben. Wo sie ankommen, hat Gründe - und ist so...Und man kann glücklicherweise immer daran arbeiten...
WARMUP 2: Die Gebogene oder Schlittschuhkür bis zum Abwinken oder "Höhere Wesen befehlen: Fläche füllen mit Pirouetten, bis sie schwarz wird"
Auch hier bitte vorher das viereckige Spielfeld markieren!
Am Ende des ersten Abends sollten Sie erlebt haben, dass die vorgestellten Linienarten unterschiedliche Wesen haben, die Sie auch zu unterschiedlichen Haltungen, Gefühlen, Ausdrucksweisen, Energien führen. Dass man dabei seine Vorlieben, Strategien und Hemmungen erlebt und einschätzen lernen kann, ist intentional.
Die Kontrollierten können von den Losgelassenen lernen und umgekehrt...jeder lernt eben anders.
Die Warmups sollten künftig in der Regel ca. 20 Minuten in Anspruch nehmen.
Mich haben sie aber auch schon Tage und Wochen über Wasser gehalten, in (scheinbar) einfallslosen Zeiten. Es kann sich daraus wie von selbst etwas entwickeln. Vergessen Sie nicht: Sie denkfühlen/fühldenken wie von selbst, unser Betriebssystem ist tief und rätselhaft und zu 90% unbekannt/unbewusst. Die Seismografik steht in Verbindung damit...Der Musiker improvisiert und erfindet Melodien aus dem Tonleitergedudel - so der Zeichner! Aus so manchem ziellosen Gekritzel entsteht plötzlich eine Bildidee... und der Zeichentag ist gerettet.
Ach so, nebenbei, üben hilft....
BüCHER DES ABENDS:
Fast schon eine Pflichtlektüre:
- Felix Scheinberger, Mut zum Skizzenbuch - Zeichnen und Skizzieren unterwegs, Mainz 2009, 29,80 € (leider teuer, aber aufwändig und schön gestaltet)
Lesen! Nachmachen! Genau darum geht es.
Sowie:
Hans Daucher, Die grosse Zeichenschule, 14,95 €
Empfehle ich jedem, der sich selbst durch das gesamte Gebiet des Zeichnens (Grundlagen, Portrait, Figur, Landschaft, Stillleben) durchzeichnen möchte. Der Autor erklärt das Wesentliche, gibt aber vor allem sehr viele Beispiele, die man als Vorlage nehmen kann, um sie zu kopieren und weiterzuentwickeln. Das praktischste Buch für Autodidakten! Vor allem fängt auch er bei 0 an, oder genauer gesagt bei dem, was man immer kann.
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