Montag, 13. Mai 2013

Einheit 2 - 2: Das SEHEN sehen lernen II - 8.5.13

Folien des Abends:



Mit allen SkeptikerInnen, die dem Ansatz des "Blindzeichnens" oder "Blindkonturzeichnen" eher ablehnend gegenüber stehen, vereinbare ich den Vertrag, dass sie nur noch ein paar wenige Stunden diesen Ansatz möglichst aber offen für Überraschungen über sich ergehen lassen müssen, da wir uns in der verbleibenden Hälfte des Semesters intensiv mit den klassischen Methoden des Zeichnens beschäftigen werden. So lange bitte das Murren unterdrücken ;-)
Meiner Erfahrung nach ist der ersehnte Wissenspart aber nicht unbedingt der entspanntere Teil der Veranstaltung....


Visuelle Eindrücke pur erfahren:

In der ersten Stunde der Einheit 2 haben wir erfahren, dass es einen anderen Zugang zur Zeichnung und Wahrnehmung gibt, der unabhängig davon ist, was wir vermeintlich über das Aussehen der Dinge zu wissen glauben.

Ja mehr noch, wir haben feststellen können, dass wir unbewusst gar nicht mehr genau hinschauen, sondern so starkes vermeintliches Vorwisssen und mächtige Konzepte über das Aussehen der Dinge in uns haben, dass wir meinen,  (fast) alles aus dem Kopf zu kennen und zeichnen zu können, wenigstens in groben Umrissen.

Aber genau dieses - symbolische - Vorwissen steht uns als Zeichner immerzu im Weg.
Wir zeichnen eine Art "abgekürzte" Realität, die nur auf das vermeintlich Wesentliche zielt und das vermeintlich Nebensächliche weglässt.
So kommt es zu Stande, dass wir z.B. beim Zeichnen eines menschlichen Kopfes gerne die für uns wesentlichen Informationen über Augen, Nase und Mund übergross und prominent zeichnen und "unwichtige" Partien wie die Stirn oder das Kinn vergessen oder zumindest unterproportional zeichnen. (Ich habe in unserer ersten Stunde einen Kopf zeichnen lassen. Vergleicht bitte das Ergebnis mit der oben ausgesprochenen Vermutung. Stimmts? Sind die Proportionen in eurer Zeichnung "realistisch" oder symbolisch?)

Diese Haltung kann man "Antizipation" nennen, d.h. wir sind geneigt, alle unsere Wahrnehmung spontan mit unserer Seherwartung zu vergleichen und nehmen das Ergebnis des Sehens oder die spezifische Seherfahrung gerne vorweg - weil wir das so gelernt haben und weil es uns im Alltag dabei hilft, die Dinge in - bewährter - Ordnung zu halten. Und das ist auch gut so - aber halt eben nur für den Alltag und die darin bewährte Ordnung...

Für den Zeichner aber ist diese Antizipation (also "Vorwegnahme") das reine Gift, denn sie verhindert die wirkliche Begegnung mit den Dingen der Welt und die Aufregung der Entdeckung der Wirklichkeit. 
Und damit vor allem, die Dinge zu sehen, wie sie sind, um sie zeichnen zu können, wie man sie selbst und persönlich sieht. Geht der Zeichner nicht daran, diese Vorurteile zu überwinden, bleibt ihm zumeist nur übrig nachzuahmen, was ein anderer vor ihm gesehen und erarbeitet hat. Und solches Zeichnen ist leider oft völlig arm und ohne Belang. (Und nur beim kopierend das Vorbild erforschenden Lernen sollte das vorübergehend OK sein.)


Der Schweizer Künstler Ursus Wehrli hat in seinem neuen Buch "Die Kunst aufzuräumen" (Verlag Kein&Aber) ironisch und zuweilen witzig die unterschiedlichen Herangehensweisen unseres Hirns (analytisch versus synthetisch)  aufs Korn genommen:








Der Kern der 2.Einheit kreist also darum, diese Vorwegnahmen und das symbolische Sehen
überhaupt erst einmal zu erkennen und mit Hilfe einiger "Tricks" zumindest zu schwächen.

Betty Edwards Ansatz ist hierbei sehr hilfreich. Sie geht davon aus, dass wir als Zeichner die Möglichkeit haben, uns ganz gezielt mit Hilfe einiger ungewöhnlicher Haltungen und Sehweisen zumindest für kurze Zeit so etwas wie ein unmittelbares und unvoreingenommenes Sehen zu ermöglichen. D.h. wir versuchen es, uns die alltäglichsten Anblicke etwa einer Hand, einer Blume, eines Steins etc. für kurze Zeit so "fremd" zu machen, dass wir sie wie zum ersten Mal überhaupt sehen. Sicherlich klingt das nach einem vielleicht etwas zu hoch gegriffenen Versprechen, aber ich verspreche trotzdem, dass man mit einiger Übung tatsächlich vorübergehend so etwas wie einen frischen, unverbrauchten Blick auf die Dinge entwickeln kann.

Das wichtigste Ziel der Einheit besteht darin, sich ganz mit dem Sehen, Hinschauen und Wahrnehmen (fällt es hoffentlich auf, was das Wort sagt: Für-Wahr-Nehmen! "Nehmen" vor allem!) zu beschäftigen.

Und nachdem wir in der Einheit 1 schon feststellen durften, welch wunderbares, differenziert ausdrucksfähiges Werkzeug unsere Zeichenhand ist, bekommen wir in dieser Einheit dafür gleich auch noch ein noch grossartigeres "Steuerinstrument" mit: Das Auge, bzw. gleich deren 2!

Unsere Übungen zielen also darauf, die Verbindung der Zeichenhand mit der unvoreingenommenen Wahrnehmung Ihres Auges herzustellen.

Ich spreche hierbei von einer notwendigen "Synchronisierung" von Auge und Hand. 
D.h. wenn man es eine Weile geübt hat und das Unsicherheitsgefühl beim sog. "Blindzeichnen" zunehmend verliert, wird sich automatisch eine Art von "seismografischer" Haltung einstellen. Was das Auge sieht, wird die Zeichenhand in die entsprechenden Linien, Kurven, Bögen übersetzen.
Mir ist klar, dass das ungewohnt ist und noch lange bleibt, aber mit der Zeit und dem bewussten Üben garantiere ich für eine deutliche Veränderung in den Zeichnungen. 
Die Linien bekommen statt symbolischer Abstraktionen so etwas wie Leben eingehaucht.


Die Dinge schauen anders aus, als wir meinen:
Dass das Auge, also das möglichst unvoreingenommene und wahrnehmende, langsame und vor allem nicht besserwissende  Hinschauen und Versenken in den Anblick der Dinge viel stärker mit der rechten Hirnhälfte und deren besonderen Leistung für das umfassende Sehen verknüpft sei, ist die Grundaussage des Ansatzes von Betty Edwards.
Ihre Aussagen stützen sich auf Ergebnisse der Hirnforschung Ausgangs des 20.Jahrhunderts, die sie für den Zeichenunterricht nutzbar macht. Ihre Methode hat sich in der Tat als produktiv erwiesen.
Auf ihre Argumentation kann ich an dieser Stelle nur verweisen. Wen es in der Tiefe interessiert, dem empfehle ich, das in der Stunde vorgestellte Buch zu lesen.
Wer entdeckt, dass ihn dieser Ansatz tatsächlich weiterbringt, dem empfehle ich für die praktische Übung unbedingt das gezeigte "Workbook" (= Arbeitsbuch).

Hier ein Auszug aus Betty Edward, Garantiert Zeichnen lernen, S. 56, Die zwei Hälften unsere Gehirns:



Die Warmups werden in dieser Einheit eigentlich immer ähnlich bleiben. Es geht darum, sich in den R-Modus zu bringen, indem man sich den Beobachtungen des Auges zu überlassen lernt. Rechtehirnhälftenjogging...


Übung "Blindes" Konturzeichnen
(Zeichenblatt relativ gross, um etliche Ansätze neben- und übereinander zu setzen;
2B Bleistift, gespitzt)

Am Ende dieser Stunde haben wir für ein paar Minuten dann an einem uns sehr vertrauten Modell das sog. Blindzeichnen geübt, indem wir so konzentriert wie möglich mit den Augen langsam entlang der Aussenkontur der linken Hand reisten und den "Reisebericht" der zeichnenden Hand mitteilten, ohne dabei auf das Zeichenblatt zu schauen. 
Am Besten wendet man sich dabei sogar ganz ab vom Zeichenblatt, um nicht in Versuchung zu geraten, das Ergebnis zu kontrollieren.

Spätestens jetzt wird klar, dass Blindzeichnen eigentlich nur für das Zeichenblatt gilt, man schaut ja so genau wie vielleicht noch nie auf etwas, nur bitte eben nicht auf das Zeichenblatt.

Auch hier geht es nur in zweiter Linie um das Zeichenergebnis auf dem Blatt, sondern um die Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit (sieht man wirklich  jede Falte, jedes Härchen, jede Beule, Delle, Biegung, Flecken ?) - und was es alles zu sehen gibt entlang der Kontur dieses doch eigentlich so scheinbar vertrauten Gegenstands!

Stellt euch vor, dass das Auge mit sehr geringer Geschwindigkeit voranschreitet und der Bleistift jeder Bewegung folgen muss wie eine Seismografische Nadel.

Eilt nicht, gönnt euch richtig viel Zeit zur Beobachtung, zwingt bitte keine anatomische Zeichnung herbei!
Heute geht es darum, dass man sich das visuelle Vokabular für die Einzelheiten erarbeitet.

Wenn man sich von der traditionellen Darstellung einer vollständigen Hand und dem perfekten Zusammenhang lösen kann, erhalten die entstehenden Figuren ihren eigenen geradezu poetischen Reiz:



Es geht hier NICHT um die anatomische und klassische, formale Stimmigkeit, sondern um das Abenteuer der lebendigen Linien, die sich, je echter die Begegnung ist, dem gesehenen Phänomen nähern.
Das bedeutet, die Dinge sehen zu lernen, wie sie sind.

 Vorlage für das Warmup:
(Durchaus auch zu Hause zu wiederholen.)


Buch des Abends:

Betty Edwards,
Das neue Garantiert zeichnen lernen - WORKBOOK
19,90 €



(Die deutsche Übersetzung ist leider ungeschickt oder bewusst reisserisch. 
Die Originalausgabe heisst:
Drawing on the Right Side of the Brain - was die Sache besser trifft! )

Betty Edwards Buch erschien Ende der 1970er Jahre erstmals in den USA und ist in seiner ursprünglichen Form ein wortreiches Plädoyer für eine bis dahin kaum bewusste und wenig bekannte, zunächst fragwürdige und gar esoterisch geltende Herangehensweise an das Zeichnen. Daher der Überhang an Erklärung und die relativ kleine Menge an konkreten Übungen und Beispielen.

Nachdem sich nun diese Methode weitgehend durchgesetzt hat und weltweit sehr viele Künstler und Lehrer damit arbeiten, folgte wenig später ein Arbeitsbuch/Workbook, das auf den theoretischen Hintergrund weitestgehend verzichtete und ihn nur skizziert, wo nötig.

Dieses Buch empfehle ich für die Praxis des Zeichnenlernens mit Hilfe der Rechten Hirnhälfte.